EPILOG
Nicht ohne mich
Am Morgen von Eleanors Auftritt mit der Integrativen Theatergruppe greife ich mir das Telefon und rufe Johnny Bellusa an.
»Roseanna?«, sagt er, als er meine Stimme hört. »Bist du das?«
Ich lächle unter meinem Stapel Bettdecken. »Hast du gedacht, ich wäre eine deiner Freundinnen?«
»Da haben wir’s«, lacht er. »Du redest genau wie deine Mutter.«
»Es tut mir leid, dass wir nicht zusammen essen konnten«, sage ich zu ihm.
»Und mir tut das mit deiner Großmutter leid. Wie kommt Mr Pulkowski denn klar?«
»Er ist im Nachbarzimmer, falls du mit ihm sprechen möchtest. Er ist bei uns, seit sie gestorben ist. Soll ich ihn dir geben?«
Am anderen Ende herrscht ein kurzes Schweigen. »Oh, nein«, sagt Johnny. »Ich wüsste gar nicht, was ich nach all den Jahren zu ihm sagen soll.«
»Er weiß, wo Alexa ist. Er hat sie hin und wieder gesehen.«
»Tatsächlich?«
Ich erzähle es ihm. Ich wiederhole alles, was Pulkowski mir in Bezug auf Alexas Aufenthalt erzählt hat, obwohl ich mich frage, warum ich das tue. Klar, dass ich immer noch auf ein märchenhaftes Ende der unglücklichen Romanze meiner Eltern hoffe – der Zimmermann und die Hebamme eilen von ihrer jeweiligen Küste herbei, um endlich vereint zu sein. Welches Kind würde sich das nicht wünschen?
»Soll ich dir etwas Lustiges sagen?«, frage ich Johnny Bellusa. »Meine Mutter ist Vegetarierin, und ich liebe einen Metzger.«
Johnny lacht, und ich meine fast zu sehen, wie sich seine leicht gebeugten Schultern schütteln. Mickey rollt im Schlaf herum und wirft einen ausgestreckten Arm um meine Taille.
»Ich muss Schluss machen«, sage ich zu Johnny. »Aber ich wollte dich vorher noch etwas fragen.« Ich atme tief durch und sage dann: »Wusstest du, dass meine Mutter emotional gesehen ein bisschen … na ja, labil war, damals, als du sie kanntest?«
Ich kann hören, wie mein wiedergefundener Vater ins Telefon seufzt. »Für mich war deine Mutter wie eine Prinzessin«, sagt er schließlich. »Sagen wir mal, wie Prinzessin Diana, die in das Leben eines Berufsschülers trat.« Er macht eine Pause. »In meinen Augen war sie immer perfekt.« Bei dem Wort perfekt wird seine Stimme brüchig.
Ich ziehe Mickeys Arm enger um meine Taille. »Ich würde das mit dem Essen gern nachholen«, sage ich schließlich zu Johnny.
»Jederzeit, meine Liebe«, erwidert er. »Wann immer du willst.«
Auf meinem Weg in die Küche, wo ich Kaffee aufsetzen will, komme ich an Pulkowski vorbei, der im Wohnzimmer auf dem Klappsofa schläft. Eines der malvenfarbenen Kissen bedeckt sein schlafendes Gesicht zur Hälfte. Ich betrachte ihn eine Weile, bis mir bewusst wird, dass ich im Moment nicht mehr als ihn brauche. Vielleicht packt es mich eines Tages und ich nehme einen Flieger, um irgendwo auf einer Brokkolifarm im Bundesstaat Washington nach meiner Mutter zu suchen. Doch heute bin ich glücklich damit, zu wissen, dass ich diese beiden schlafenden Männer in meinem Leben habe. Und ich hatte ja auch Helen, einen Segen, den ein Kind vielleicht erst im Rückblick wirklich schätzen kann.
Ich beuge mich über Pulkowski und küsse ihn auf die Stirn.
Er hat eine aufregende Woche hinter sich, auch in medizinischer Hinsicht. Die Untersuchungsergebnisse sind da: Er hat keinen Krebs mehr. Das Ironische daran ist, dass er nicht sicher ist, wofür er noch leben soll. Ja, diese Ironie: Da hat die Frau, die er verehrte, sich rührend um ihn gekümmert, aber auch ein Päckchen Zigaretten pro Tag geraucht. Jetzt ist sie fort, und er hat nur noch mich.
Natürlich hat er auch Mickey. Und Marcie. Selbst Sean kommt manchmal sonntagnachmittags vorbei, um mit ihm Karten zu spielen. Wir kommen zurecht. Es ist ein bisschen eng in der Wohnung, aber er wollte erst mal nicht allein bleiben. Jetzt kann er aber wieder zurück nach Hause, meint er.
Nach der Theateraufführung heute wollen Marcie und ich ihn rüberbringen, die Vorratsschränke mit Lebensmitteln füllen, ihm ein neues Fernsehheft kaufen und noch ein paar von Helens Wandschränken und Schubladen leer räumen. Wir werden ihm eine Liste mit Telefon- und Handynummern dalassen und überprüfen, ob auch genug Benzin im Auto ist. Es war seine Idee. Na ja, seine und Marcies. Sie hat seinen Gefrierschrank mit Fertiggerichten gefüllt, die für mehrere Wochen reichen. Und sie hat sich bereits Helens Kleiderschrank vorgenommen.
Auch für Eleanor ist heute ein aufregender Tag. Mrs Bingle, die Leiterin der Integrativen Theatergruppe, hat ihr eine tragende Rolle in dem Stück Nicht ohne mich gegeben, zweifelsohne wegen ihrer grandiosen Singstimme. Wir alle werden uns die Aufführung ansehen. Mickey kommt vom Save-Way herüber und bringt auch Milton mit. Sogar Marcie und Sean werden dabei sein, da sie beide am Wochenende frei haben und Eleanor ja ein Schützling von EPT ist.
In Momenten wie diesem vermisse ich Helen am meisten. Sie hätte Pulkowski einfach mitgeteilt, dass wir uns heute ein paar singende Einfaltspinsel anhören und sich ob dieser Aussage nicht im Geringsten geschämt.
Ich setze Kaffee auf und stelle drei Tassen auf den Tisch. Mickey hat mir ein neues Wägelchen für die Mikrowelle besorgt (genau genommen einen Metzgerblock auf Rollen), und jetzt sieht die Küche wieder viel wohnlicher aus. Wir werden Teddys Arbeitszimmer zu einem Gästezimmer umbauen, damit Pulkowski so oft kommen kann, wie er möchte. Es ist ja nicht so, dass er stört. Schließlich spricht er kaum.
Da ich die Erste bin, die aufgestanden ist, springe ich unter die Dusche. Während das warme Wasser über meinen angenehm schlanken Körper läuft, höre ich, wie die Glastür aufgeht und Mickey hereinkommt. »Hey«, sagt er und legt die Arme um mich. Er ist feucht, warm und pelzig – alles genau an den richtigen Stellen. »Hey«, sage auch ich, küsse ihn auf den Mund und schmecke die Seife. Seine Hand gleitet über meinen fast flachen Bauch. »Wir könnten aus dem Gästezimmer auch ein Kinderzimmer machen, weiß du«, sagt er. Ich habe ihm nie erzählt, dass ich immer gehofft hatte, Teddy würde das mal sagen. Wieder küsse ich ihn, diesmal schmecke ich Shampoo. »Jetzt, wo ich endlich dünn bin«, sage ich.
»Du warst immer schön«, sagt er. »Ich mag starkknochige Frauen.«
Metzgergesäusel. Immer geht es um Knochen und Fleisch.
Um zehn Uhr ist Mickey bereits fort. Pulkowski und ich fahren hinüber zu Eleanors betreuter Wohngruppe. Der Himmel ist mit schweren grauen Wolken verhangen, und man meint fast, den Schnee riechen zu können, der bald fallen wird. Pulkowski sieht scharf aus in dem schönen Hemd, das ich für ihn gebügelt habe. Ich habe den Kragen und die Manschetten gestärkt, genau wie Helen es getan hätte, und sogar die Knopfleiste. Wir fahren auf den bereits überfüllten, matschigen Parkplatz hinter Eleanors Haus und sehen zu, wie die Eltern der Bewohner und andere Familienangehörige Türen knallen und nach drinnen eilen. Manche von ihnen haben Blumen dabei, und einer trägt eine Flasche mit sprudelndem Traubensaft, die so verpackt ist, dass sie wie Champagner aussieht.
»Mr P.!«, hören wir jemanden rufen, und als wir uns umdrehen, läuft Marcie auf uns zu. Sie ist von Kopf bis Fuß von einem braunen Herrenmantel bedeckt, der zeltgroß ist und sich im Winterwind bläht. Sean folgt steif ein paar Schritte hinter ihr. Er trägt eine Wintermütze, die seinen Kopf wie ein Ei aussehen lässt.
Zu viert betreten wir eine Diele, die vollgestopft ist mit Stiefeln und Jacken. Von der Decke hängt ein riesiger Stern aus Pappmaché, und an Wänden und Fenstern kleben unzählige Papiersterne. NICHT OHNE MICH! hat jemand in runden Kreidebuchstaben auf ein großes Schild geschrieben. Eleanor kommt mit einem Lächeln auf den Lippen und stark geschminktem Gesicht auf uns zu. Was sie trägt, kann man am besten als Ballkleid bezeichnen. Es ist pfirsichfarben und hat mehr Schichten als eine Hochzeitstorte. Sie sieht aus wie eine Prinzessin. »Kommt hierher!«, ruft sie, wirft die Arme um mich und drückt mich an sich.
»Eleanor«, sage ich. »Möchtest du uns nicht begrüßen?«
»Ich bin der Star!«, sagt sie und lässt mich los. »Hallo.«
»Du bist ganz sicher der Star«, sage ich zu ihr und zupfe einen ihrer Puffärmel zurecht. »Und ein sehr hübscher obendrein.«
Ich stelle sie Pulkowski vor, der inmitten der Mischung aus geistig zurückgebliebener Durchgeknalltheit, Lampenfieber, aufgeregtem Rufen, laut brüllenden behinderten Schauspielern und ihren Familien selig lächelt und nur Augen für Marcie hat. Als ich Marcies Aufmachung sehe, weiß ich auch, warum er so gefesselt ist.
Sie sieht einfach perfekt aus in Helens gepunktetem Hemdblusenkleid. Der Gürtel aus Lackleder sitzt genau im selben Loch. Der Rock fällt in schmeichelnden, gepunkteten Falten über ihre schlanken Hüften. Das kleine weiße Spencerjäckchen hängt steif von ihren Schultern, die Dreiviertelärmel haben akkurate Bügelfalten.
»Das ist doch wohl das heißeste Outfit, das du in deinem ganzen Leben gesehen hast, oder?«, fragt sie.
Ich weiß nicht, ob ich diese, meine beste, verrückte Freundin erwürgen oder bei ihrem Anblick einfach nur in hysterisches Lachen ausbrechen soll. Ich entscheide mich für den Mittelweg und stehe mit offenem Mund in der Diele.
»Sie sieht entzückend aus«, flüstert Pulkowski.
»Und erst die Schuhe«, sagt Marcie. Sie schlägt die Hacken ihrer altmodischen Stöckelschuhe, die vorne offen sind, zusammen. Vermutlich hat Helen sie zu meiner Taufe getragen. Ihre Zehennägel sind rot lackiert. »Deine Mutter hat auch ein paar coole Hüte«, sagt sie. »Aber die schienen mir für heute zu sommerlich.«
»Ja, wir haben schließlich Februar«, gelingt es mir zu sagen.
»Ich hoffe, du hast sie mitgenommen«, sagt Pulkowski. »Die Hüte. Sie hätte gewollt, dass du sie bekommst.«
»Was für Hüte?«, ruft Eleanor, ergreift dann meine Hand und zieht mich zum Esszimmer.
Was für ein Anblick.
Die Wände sind mit alten Filmpostern von Rita Hayworth, Joan Crawford und Clark Gable bedeckt. Das größte Poster zeigt Fred Astaire und Ginger Rogers beim Tanzen. HOLLYWOOD HURRA! steht auf dem Banner, das in dem Zimmer aufgehängt ist. Auf dem Tisch liegen neben einer Vase mit gelben Rosen Marker und Namensschilder, die von den Gästen auszufüllen sind. In der Mitte der Tafel aber thront eine riesige, rechteckige Torte, die ohne Zweifel Eleanor gebacken hat.
Ganz ohne Zweifel. Nur Eleanor würde eine Torte mit einem Schuh dekorieren. Ich trete einen Schritt näher, um sicherzugehen, dass ich richtig gesehen habe. In dem leuchtend rosa Zuckerguss steckt ein silberner Tanzschuh. Der Schuh sieht nicht neu aus. Der ausgefranste Knöchelriemen hängt in die Glasur. Das scheint niemanden zu stören, oder die heutigen Gäste sind einfach zu höflich, um etwas zu sagen.
»Hier«, sagt Eleanor und hebt einige Lagen ihres Kleides an, um ihre eigenen silbernen Tanzschuhe vorzuführen. »Die gleichen Schuhe wie meine. Die sind nur für Tänzer. Nur für Tänzer.« Sie erhebt mahnend einen Zeigefinger.
»Die sehen hübsch aus«, sage ich. Dann deute ich auf die Torte. »Und wessen Schuh ist das?«
»Weiß ich doch nicht!«, ruft Eleanor laut, als wäre es vollkommen idiotisch, danach zu fragen.
Ich spüre Hände auf meinen Schultern und entdecke beim Umdrehen, dass Mickey hinter mir steht. »Bitte verlang nicht, dass ich die auch noch im SaveWay ausbilde«, flüstert er mir ins Ohr und starrt auf die rosa Torte.
»Beruhige dich«, sage ich und küsse ihn auf die Wange. Milton steht geknickt neben ihm. Er knetet sich so aufgeregt die Hände, als wäre er gerade Zeuge eines Mordes geworden. Es war sehr schwer für ihn, zu akzeptieren, dass Miss Plow bald Mrs Hamilton sein wird.
»Hallo, Milton«, sage ich und schüttele ihm ganz formell die Hand.
»Man kann doch keinen Schuh in eine Torte stecken«, sagt er ziemlich laut.
»Kann man wohl, wenn man Schauspieler ist«, korrigiert Eleanor ihn. »Und wer bist du?«
»Das ist Milton«, sage ich. »Milton, das ist Eleanor.«
»Ich bin der Star der Show«, erklärt Eleanor Milton. »Nicht ohne mich.«
»Ja, und mich hat mal ein Volvo angefahren«, sagt Milton.
Das scheint Eleanor zu verwirren.
Eine schlanke Frau in einem schwarzen Kleid, von der ich annehme, dass sie Mrs Bingle ist, ruft alle Schauspieler auf, sofort zu ihr in die Halle zu kommen. Das Esszimmer leert sich in Sekundenschnelle, zurück bleiben nur verblüffte Eltern und Gäste.
»Wer war dieses Mädchen?«, fragt Milton und folgt der Wolke aus pfirsichfarbenem Crêpe in Eleanors Windschatten mit dem Blick. Mrs Bingle erscheint erneut und fordert uns auf, umgehend unsere Plätze in der Halle einzunehmen.
Mickey stupst mich mit dem Ellbogen an, als wir nacheinander hineingehen. »Ist das der Beginn einer Romanze zwischen Milton und der Bäckerin?«
»Keine Ahnung«, erwidere ich. »Ich hab den Metzger abgekriegt.«
»Ich liebe deine Lenden«, sagt er und tätschelt mein seit Neustem schlankes Hinterteil.
»Schscht« zische ich ihm zu und lasse mich auf einem Klappstuhl zwischen ihm und Pulkowski nieder.
»Kann ich neben Miss Plow sitzen?«, fragt Milton und beugt sich vom Platz neben Mickey herüber.
»Nein«, sagt Mickey.
»Möchtest du gern neben mir sitzen?«, fragt Sean zu unser aller Überraschung.
»Nein«, sagt Milton, und Marcie bricht in schallendes Gelächter aus.
Eine ältere Frau in einem türkisblauen Pullover nimmt vorn im Raum hinter einem alten Klavier Platz. Zu einem lauten Akkord kommt die Integrative Theatergruppe hereingetanzt und fängt an zu singen.
Give my
regards to Broadway!
Remember me to Herald Square!
Tell all the gang at Forty-second Street
That I will soon be there!
Eleanor steht vor den anderen und schmettert ihr Lied. Die anderen tanzen und singen hinter ihr und führen ihre ziemlich schwierige Choreographie besser vor, als ich das je gekonnt hätte. Sie werfen die Beine mit den glitzernden Tanzschuhen in die Höhe, als gäbe es kein Morgen.
Give my
regards to old Broadway
And say that I’ll be there e’er long!
Eleanor breitet die Arme aus wie Al Jolson. Ihr Rock wippt, ihre Augen strahlen, ihre Wangen sind röter als der Zuckerguss auf ihrer Torte. Pulkowski nimmt meine Hand in seine, und so sitzen wir da und sehen zu.
Nach der Aufführung essen wir alle von der Torte. Wir nehmen den silbernen Pumps heraus, bevor wir in die Glasur schneiden. Milton blickt traurig drein, als Mickey mir eine Tasse mit Früchtepunsch reicht.
»Miss Plow?«, fragt er. »Werde ich je eine Freundin wie Sie haben?«
»Du weißt doch«, raune ich ihm zu, »was für ein toller Kerl du bist. Irgendeine Frau wird kommen und sich dich unter den Nagel reißen.«
»Ich weiß, dass ich ein toller Kerl bin«, ruft er laut, als ich mich vorsichtig danach umsehe, ob uns irgendwelche Betreuer hören könnten, »aber ich bin auch ein bisschen beschränkt.«
»Wir sind alle ein bisschen beschränkt«, erinnere ich ihn, doch das scheint Milton nicht zu trösten. Ich drücke seinen Arm und sehe ihm geradewegs in die Schokoaugen. »Ich wünschte, ich könnte in die Zukunft sehen«, sage ich zu ihm. »Ich bin aber nur deine Betreuerin.«
»O nein«, erwidert er. »Sie sind nicht nur meine Betreuerin. Sie sind die Dame mit dem schönen Gesicht.«
Mickey und Milton müssen zurück in den SaveWay. Ich begleite sie zu Mickeys Wagen, ich, die Dame mit dem schönen Gesicht. Milton geht wie ein eifriger Roboter vor uns her. Ham hat ihm den Schlüssel gegeben, um das Auto aufzusperren, und er nimmt diese Aufgabe sehr ernst. Mickey und ich schlendern langsam hinterher und genießen es, kurz miteinander allein zu sein.
»Ich könnte uns heute Abend etwas kochen«, schlage ich vor. »Ich werde früh genug von meinem Vater zurückkommen.«
Es fällt noch kein Schnee, aber der Sturm scheint so nahe bevorzustehen, dass ein erwartungsvoller Schauer über meine Arme läuft. Wir gehen Hand in Hand über den Parkplatz und denken beide an die erste Nacht seit Wochen, die wir allein in der Wohnung verbringen werden.
»Ist dir nach etwas Bestimmtem zum Abendessen?«, frage ich.
»Nach dir«, sagt Mickey und drückt meine Hand.
Wir wussten ja bereits, dass er ein Fleischfresser ist.
»Erinnerst du dich noch an die netten roten Dessous, die du einmal für Marcie und Seanie vorgeführt hast?«
Ich nicke. Meine Wangen glühen so heiß, dass man Schnee damit schmelzen könnte.
»Warum ziehst du die nicht an, wenn ich nach Hause komme?«
Ich erwidere seinen Händedruck. »Warum nicht, Mr Ham?«, sage ich. »Warum tue ich das nicht?«
Als wir am Wagen ankommen, sitzt Milton bereits drin. Sein schönes, besorgtes Gesicht blickt durch das Fenster zu uns heraus. Ich drücke Hams Hand ein letztes Mal und lasse sie dann los. Sie werden zurück zum SaveWay fahren, und er wird Milton wieder zum Einpacken schicken. Ich fahre Pulkowski zurück in das Zuhause meiner Kindheit und fange mit Marcies Hilfe an, daraus einen Ort zu machen, an dem er wieder leben kann. Und während mein Großvater sich auf seine erste ganze Nacht allein vorbereitet, werde ich heute Abend in meine feuerwehrroten Dessous, die so knapp wie Gummibänder sitzen und ein Geschenk meines Exmannes sind, schlüpfen und mit einem Mann mit lustigen Koteletten schlafen, dem Mann, den zu lieben ich vielleicht geboren wurde.
Als ich zurück ins Esszimmer der Wohngruppe komme, entdecke ich Pulkowski, der es sich auf einem steiflehnigen Stuhl bequem gemacht hat und von Eleanor und ihren Mitbewohnern belagert wird. Manche von ihnen tragen noch immer die Theaterschminke. Die kleine grauhaarige Mitbewohnerin, die ich schon an Thanksgiving kennengelernt habe, tätschelt Pulkowski den Kopf und strahlt ihn an. »Er ist ja so süß!«, sagt sie immer und immer wieder. Pulkowski scheint das nichts auszumachen. Zum ersten Mal seit Wochen sehe ich ihn lächeln.
»Nehmen Sie etwas von der Torte mit!«, ruft Eleanor mir zu und eilt mit einem in Frischhaltefolie verpackten Pappteller herbei. In der Glasur ist ein eckiger Abdruck, dort, wo vorher der Absatz des Schuhs steckte. Ich danke Eleanor, nehme den Teller und sage ihr noch einmal, wie großartig ihr Auftritt war. Sie umarmt mich so fest, dass eine zartere Person Verletzungen davongetragen hätte. Doch ich habe starke Knochen und mein Herz ist übervoll, und selbst wenn Eleanor für den Rest ihres Lebens im Schlafanzug zur Arbeit erscheint, selbst, wenn sie gefeuert wird, kann ich doch nicht anders, als die außergewöhnliche Entwicklung dieses meines ganz speziellen Schützlings zu bemerken.
Ich setze Pulkowski ins Auto und stelle ihm die Torte auf die Knie. »Bereit?«, frage ich und lasse den Motor an. Er nickt und schenkt mir eins seiner berühmten Daddy-Lächeln.
»Marcie wird da sein, um uns zu helfen«, erinnere ich ihn. Wieder nickt er.
Eleanor winkt uns vom großen Panoramafenster aus zu, als wir den Parkplatz der Wohngruppe verlassen. Wir werden Helens Haus wieder in Besitz nehmen. Endlich fällt auch der Schnee. Braune Rasenflächen verschwinden unter einer dünnen weißen Schicht, so zart wie Spitze. Ich stelle Pulkowskis Lieblingssender im Radio ein, und wir lauschen Peggy Lee, wie sie mit sinnlicher, starker Stimme und verführerischer Betonung »Fever« singt. Mein Großvater klopft sich im Rhythmus der Musik auf die Knie. Ich meine zu hören, wie Helen ihn ruft, lauter als Peggy Lee, und auch viel verführerischer. Beweg dich her, Pulkowski, und hilf mir mal mit dem verfluchten Reißverschluss! Der Schnee fällt weiter. Die Scheibenwischer quietschen. Pulkowskis Hand macht tapp, tapp, tapp. Wie sagte Helen doch einmal an einem weitaus weniger glücklichen Tag als dem heutigen zu mir? Das Leben ist nicht immer Klavierkonzert und Kalbskotelett. Aber wie es so ist im Leben: Genau in diesem ganz unspektakulären Moment finde ich meines einfach wunderbar.